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Feature: Wi knüppen un wäben en Teppich för’t Leben

08.02.2017

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4 min

Zur Geschichte und Tradition der Pommerschen Fischerteppiche

TMV/pocha.de Fischerteppiche aus Freest in Vorpommern
Helga Grabow ist die letzte ihrer Zunft. In ihrer Stube in Spandowerhagen geht sie einer Handwerks-Kunst nach, die man nicht unbedingt und zuallererst verorten würde in einer Küstenregion. Dabei passt sie auf den zweiten Blick durchaus gut zu Land und Leuten, braucht es für ihre Ausübung und Vollendung doch Zeit und Geduld, Fingerfertigkeit und Geschick – allesamt Eigenschaften, die man sehr wohl verbindet mit dem Menschenschlag im hohen Nordosten Vorpommerns.
Helga Grabow nämlich knüpft Teppiche. Fischerteppiche, um genau zu sein. Wertvolle Unikate mit überwiegend maritimen Motiven, die gern auch als „Perser von der Ostsee“ geadelt und gehandelt werden. Mit unfassbaren 58.000 Knoten pro Quadratmeter, wofür Fachfrauen wie Helga Grabow etwa 160 Stunden und 2.500 Gramm Wolle brauchen. Jedes Stück ist einzigartig, und genau das macht ihr besonders Spaß: „Handarbeit habe ich schon immer sehr gemocht“, sagt sie mit typisch norddeutschem Zungenschlag, „und jeder Teppich, den ich knüppen tu, hat immer ein anderes schönes Motiv.“ Wellen, Möwen, Schwäne, Kormorane, Stranddisteln, Koggen, Anker – gern auch im Doppel- oder als Viererpack – sowie Fische natürlich in unterschiedlichsten und originellen Kombinationen und Farben bilden den klassischen Motivkanon der Pommerschen Fischerteppiche. Neben dem Meer kommt der Wald ins Spiel mit Hirschen, Hirschkäfern, Eichkatern und Eichenlaub. Und der Hansestadt Greifswald wird gern mit dem Wappentier-Greif ein wollenes Denkmal gewebt – als immerwährende Danksagung für eine Rettung aus großer Not in schweren Zeiten. 1928 nämlich stehen die Fischer der Region urplötzlich vor dem Nichts. Ein dreijähriges Fangverbot in der südlichen Ostsee soll dem dezimierten Fischbestand wieder auf die Flossen helfen. Den Fischern drohen Arbeitslosigkeit und Armut, da kommt dem Greifswalder Landrat Werner Kogge eine geniale Idee: Leute, die mit großem Geschick Netze und Reusen knüpfen und flicken können, müssten doch auch in der Lage sein, Teppiche herzustellen und aus deren Verkauf ein Einkommen zu erzielen. Gesagt, getan: Auf eine Annonce meldet sich der österreichische Textilexperte Rudolf Stundl, der sich bestens auskennt mit Web- und Knüpftechniken. Der Mann ist ein Glücksfall: Er entwickelt spezielle Hochwebstühle, die in die niedrigen Katen der Fischer passen und lässt sie von Tischlern aus der Region bauen. Er schult und betreut die Anfangsmannschaft von über 50 Teppichknüpfern in Freest, Lubmin und Spandowerhagen. Und er entwirft alle Teppichmotive und kurbelt den Verkauf der ersten Exemplare an. Für seine Teppiche entleiht Rudolf Stundl Material (Schafwolle) und Knotentechnik aus der orientalischen Teppichkunst, verzichtet aber auf deren Ornamentik. Mit voller Absicht: Man braucht ein norddeutsches Alleinstellungsmerkmal – und aus dem Leben von Fischern entlehnte Elemente und Ornamente hat es zuvor auf Teppichen noch nie gegeben. Ein weiteres Markenzeichen ist die Robustheit der Fischerteppiche – so richtig schön wären sie erst, wenn ein Regiment Soldaten darüber hinwegmarschiert sei. Sagten manche. Möglicherweise war es diese martialisch-militärische Deutung, die Fischerteppiche auch in der Nazizeit beliebt machten. Die pommersche Volkskunst jedenfalls wurde vereinnahmt als angeblich uralte nordische Tradition. Das machte die Teppiche zu begehrten Kunstobjekten für Privatpersonen und Institutionen – zu den Besitzern gehörten Reichsminister, Staatsbeamte, Gauleiter, NS-Größen wie Alfred Rosenberg, Herrmann Göring und angeblich sogar Adolf Hitler. Trotz alledem kam die florierende Produktion 1940 kriegsbedingt zum Stillstand – nach nur zwölf Jahren Existenz schien den Fischerteppichen das letzte Stündlein geschlagen zu haben. Doch nach dem Krieg geht es irgendwie weiter. 1946 entsteht ein Ornamentteppich mit eingewebter Jahreszahl, 1947 der Krösliner Altarteppich mit Jesus am Kreuz und schwebendem Dreifisch – gleichermaßen Symbol für die Teppichknüpfer wie für die Dreieinigkeit Gottes. Mit Gründung der Handwerklichen Produktionsgenossenschaft (PGH) „Volkskunst an der Ostsee“ im Mai 1953 nimmt die Teppichproduktion in der DDR wieder Fahrt auf und wird sogar erweitert auf die Standorte Wolgast, Lassan, Heringsdorf und Zinnowitz. Große Auftragswerke entstehen anlässlich bedeutender Jubiläen wie zur 750-Jahr-Feier der Hauptstadt Berlin, produziert wird aber auch für Staat und Staatssicherheit. Das Ende kommt mit der Wende – wieder einmal und diesmal endgültig. Mit Schließung der PGH verschwindet 1992 der letzte größere Produktionsbetrieb; alle Versuche, einen Nachfolger erfolgreich in der Marktwirtschaft zu etablieren, sind zum Scheitern verurteilt. Seither werden Fischerteppiche nur noch zeitweilig in geförderten Maßnahmen und in privater Initiative gefertigt. Helga Grabow kann sich nicht beklagen über Mangel an Arbeit. Sie knüpft Fischerteppiche für Liebhaber aus aller Welt, selbst in Amerika und Australien schmücken ihre guten Stücke Böden und Wände. Eines allerdings macht ihr Kummer: Wer wird das fast 100-jährige Erbe Rudolf Stundls pflegen, wenn sie dereinst mal keine „Teppiche  för´t Leben mehr knüppen und wäben“ kann. Ausstellungen und Bildarchive:
Umfangreiche Sammlungen an Pommerschen bzw. Freester Fischerteppichen besitzen das Stadtgeschichtliche Museum „Kaffeemühle“ Wolgast, die Heimatstube Freest, das Pommer-sche Landesmuseum sowie die Universität Greifswald, die auch den künstlerischen Nachlass Rudolf Stundls verwaltet. Das Weblog fischerteppich.wordpress.com‎ beinhaltet einen umfangreichen Bildkatalog mit Fischerteppichen und Verschlagwortung (Tags). Pressefotos zum Herunterlanden: Fischerteppiche Freest
Foto: TMV/pocha.de Hafen Freest
Foto: TMV/Legrand